Der Mythos des Ikaros
Dixit et ignotas animum dimittit in artes.
Nicht von ungefähr kommt's, daß ich Vers 188 aus dem 8. Buch der Metamorphosen Ovids, welchen übrigens James Joyce seinem durchaus lesenswerten Roman "Portait of the Artist as a Young Man" voranschickte, zum Leitspruch dieses Quasi-Diariums erkor, den ich wie folgt übersetzt wissen möchte: "Sprach's und schickte in Künste den Geist, unbekannte." (ich bin, wie man - zurecht - einwenden kann, kein Klopstock). Gemeinhin gilt Daedalus (griech. Daidalos) als Sinnbild des erfindungsreichen Handwerkers, Mensch durch und durch, der - seinen Neffen aus Neid ermordet - nach Kreta flieht, von Kreta wiederum, da König Minos ihn festhält, fliehen will. Ikaros seinerseits gilt als Sinnbild menschlichen Strebens, das ihm schließlich, der er zu nahe an
der das Wachs seiner künstlichen Flügeln schmelzenden Sonne fliegt, den Tod bringt - die philologische Diskussion und weitere Interpretation wird getrost denen überlassen, die sich dazu berufen fühlen.
Mich faszinierend: Der Augenblick, da in Ikaros das Streben erwacht; der Augenblick, da Daedalus im erhabenen Hexameter seinen "animum" in "ignotas artes" "dimittit". Augenblicke, in denen das den Menschen seit Urzeiten Treibende zum Ausdruck kommt, unvergänglich und ewig. Mein Urgroßvater schrieb in den frühen 1910er-Jahren, vermutlich kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, treffend: "Des Menschen Ziel heißt aufwärts streben." Womit er - ob bewußt oder unbewußt - das ewige Streben des Menschen, das Aufwärtsstreben des Ikaros, treffend beschrieb, ehe das Wachs der Welt am Ersten Weltkriege schmelzen sollte.
Eine Gratwanderung zwischen Leben und Untergang ist das Aufwärtsstreben des Menschen, notwendig und nur als solche möglich jedoch, die irgend zu unterbinden sie sogleich unmöglich macht; die, wenn unterbunden, sich fortschrittshemmend erweisen würde; die selbst gescheitert sich noch als schöpferisch erweist (das Stürzen des Ikaros gab ja dem Ikarischen Meer seinen Namen).
Wer die Mythen der Menschheit im Hades sucht, sucht an der falschen Stelle: Ein Mythos des Ikaros ist es, gratwandernde Schaffensfreude, Aufwärtsstreben, an den zu glauben, und nicht nur zu glauben, den auch zu leben es gilt, Triebfeder der Zivilisation.
Anmerkung: Klopstock übersetzt: "Sprach's: und wendet den Geist auf unerspähete Künste."
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