Donnerstag, September 15, 2005

In der U-Bahn.

In einer U-Bahn erlangt man das, was man nach der Lektüre eines Dickens-Romans (seit Monaten schon kämpfe ich mich durch "Bleak House") zu erlangen glaubt: einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Man beobachtet, betrachtet, versucht, die Leute einzuordnen, ihre Gesichtszüge aufzunehmen, während außerhalb die Sonne sich im Untergehen befindet. Man befindet sich bis zum Moment des Aussteigens in einer Schicksalsgemeinschaft mit den Mitfahrenden, vielleicht vom Nervenkitzel, personifiziert durch den in Zivil durch U-Bahnen streifenden Kontrolleur, in Atem gehalten; vielleicht die Mitfahrenden auch gar nicht wahrnehmend, da in Gedanken versunken; und doch - bis du zum Ziel gelangst, bist du dazu gezwungen, mit diesen Fremden eine Schicksalsgemeinschaft zu bilden.
Ich fuhr gestern, wie annähernd jeden Tag, mit der U-Bahn, desinteressiert an den Mitfahrenden und ließ, momentan das Einzige, was ich an mich heranlasse, die Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne mein Gesicht berühren. Und plötzlich fiel mir auf, daß nicht einmal jemand aus der erzwungenen Schicksalsgemeinschaft meine Nähe suche und einen Sitzplatz mir gegenüber einnehme. Ich betrachtete die Mitfahrenden nicht direkt (das wäre mir an diesem Tag zu viel Kontakt gewesen), sondern indem ich deren Spiegelbilder auf den Scheiben der U-Bahn betrachtete. Bin ich? Bin ich hier und jetzt -- da? Der Fleck auf dem Hemd, mir erst zu diesem Zeitpunkt aufgefallen, erregte keine Aufmerksamkeit; meine unreine Gesichtshaut kümmerte niemanden. Wie wäre es, wenn ich laut zu rülpsen begänne, auf den Sitz schisse, dabei Unflätigkeiten wider die Mitfahrenden von mir gebend, sodann das Fenster einschlüge und, anstatt ganz gewöhnlich durch die Tür den Zug zu verlassen, durch das Fenster auf den Bahnsteig spränge?, frug ich mich, still hineinlächelnd in mich.

Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse
sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt
sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick anzuschaun, keine Reue fühlen,
kurz, das, was vom Leben übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, d. h., die
letzte grabmäßige Ruhe noch zu vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen
lassen.
Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren
des kleinen Fingers über die Augenbrauen.

Mein kleiner rechter Finger strich, probeweise, meine Augenbrauen; die Tonbandstimme hieß mich aussteigen und eintauchen in eine weitere Schicksalsgemeinschaft, und mein kleiner rechter Finger spürte nach wie vor jedes einzelne Härchen meiner linken Augenbraue, als hätte ich ihn nicht zurückgezogen.
Mit dem Akt des Aussteigens darf man die Schicksalsgemeinschaft als beendet betrachten. Unwahrscheinlich, daß dir noch bewußte Blicke nachstreifen. Du hast dich befreit und bist vielleicht wieder dein eigener Herr. Sinnbild.